In den langen 1770er Jahren vollzieht sich in der deutschen Literaturgeschichte ein poetologischer Umbruch, durch den die klassizistische Nachahmungsästhetik von der subjektiven, auf die Moderne vorausweisenden Ausdrucksästhetik mit ihrem Anspruch auf Originalität und Natürlichkeit abgelöst wird. Dieser Umbruch verdankt sich der ersten, prototypischen Jugendbewegung der deutschen Literatur, die als Sturm und Drang längst zur kanonischen Schulbildung gehört und auch dadurch ihren revolutionären Impetus verloren hat, der ihr bereits von Zeitgenossen oft mehr als tollwütiges Gebaren denn als tatsächliches literarisches Umwälzungsvermögen ausgelegt wurde. Im Seminar wird es um die historische Vergegenwärtigung dieses poetologischen Umschwungs gehen, der im herkömmlichen, eingangs aufgegriffenen Schematismus den Eindruck erweckt, dass individueller literarischer bzw. lyrischer Gestaltungswille, wie er mit den Schlagworten ,Erlebnislyrik‘, ,Genie-Ästhetik‘ und ,Originalität‘ aufgerufen wird, erst eine Errungenschaft weniger begabter Dichtertitanen des späten 18. Jahrhunderts sei. Um diesen Wandlungsprozess differenziert zu erfassen, soll anhand eingehender Lektüren von Gedichten des Sturm und Drang gefragt werden, was die lyrischen Texte dieser nicht nur begabten, sondern auch studierten Dichter auszeichnet und wie Gedichte eigentlich davor ausgesehen und funktioniert haben in diesem Jahrhundert, in dem Lyrik sich als literarische Gattung gegenüber Epik und Dramatik überhaupt erst etabliert. Nicht zuletzt wird zu fragen sein, wie die Bewegung des Sturm und Drang, die schon als Zusammenschluss individualitätsversessener Autoren ein Widerspruch in sich ist, im Kontext von Aufklärung und Empfindsamkeit zu positionieren ist.