Seit einigen Jahren kann man beobachten: Der Begriff der Klasse ist zurück – im (politischen) Gespräch und in der Literatur. Seit mit Beginn der Corona-Pandemie die Wirksamkeiten von sozio-ökonomischer Ungleichheit eine neue Sichtbarkeit erlangten (weil sie sich verschärfen), kommt Klassenfragen gesellschaftlich und politisch wieder mehr Aufmerksamkeit zu. Und spätestens mit dem Erfolg von Didier Eribons Rückkehr nach Reimes (frz. 2009, dt. 2016) und den Romanen von Edouard Louis häufen sich literarische Publikationen, die sich mit Fragen zum Thema Klasse befassen. Dabei fällt auf, dass dies meist autobiographische Texte sind, in denen ein Ich retrospektiv vom schwierigen Weg des sozialen Aufstiegs, dem Austritt aus prekären sozio-ökonomischen Verhältnissen erzählt. Die eigene Erfahrung wird dabei auch zum Anlass, Klassismus und soziale Ungleichheit (soziologisch) zu analysieren, genauer in den Blick zu nehmen. Annie Ernaux, deren seit den 1990er Jahren erschienen Romane Vorbild für diese Erzählungen sind, nennt diesen erzählerischen Modus entsprechend ein „autosoziobiographisches“ Schreiben. Mit dieser Tradition des Schreibens über Klasse wollen wir uns im Seminar beschäftigen – um uns letztlich die Frage zu stellen: Wie lässt sich noch, d.h. anders als diesen Narrativen folgend, von Klassismus, sozialer Ungleichheit und prekären Klassenidentitäten erzählen?

In einem ersten Block werden wir uns dafür historisch und kritisch mit dem Begriff der ‚Klasse‘ beschäftigen und überprüfen, inwieweit er komplexer und prekärer werdende sozio-ökonomische Strukturen und Dynamiken zu fassen vermag, wie er sich zu den Kategorien race und gender verhält und in welcher Form er für unsere Beschäftigung mit literarischen Texten geeignet scheint. Anschließend werden wir uns der Tradition des autosoziobiographischen Erzählens widmen und Texte von Annie Ernaux, Didier Eribon, Edouard Louis und Deniz Ohde v.a. im Hinblick darauf untersuchen, wie sie erzählen. Davon ausgehend werden wir schließlich noch einige weitere Texte lesen, um andere Möglichkeiten, Klasse zu erzählen, zu erkunden.

Von einigen der Texte werden wir nur Ausschnitte lesen, die über Moodle bereitgestellt werden (englische Texte im Original, französische in deutscher Übersetzung).

Folgende Texte werden wir ganz lesen. Bitte besorgen Sie sie sich möglichst frühzeitig:

-       Annie Ernaux: Die Scham, aus dem Französischen von Sonja Finck, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2021.

-       Deniz Ohde: Streulicht, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2021.

-       Megan Gail Coles: Small Game Hunting at the Local Coward Gun Club, Toronto: House of Anansi Press, 2019.