Mären sind kurze, exemplarische, oft lehrhafte, manchmal komische, stellenweise obszöne, teils abgründig-brutale, teils sozialkritische Verserzählungen, die zwischen dem späten 13. Jahrhundert bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts entstehen. Zwar bildet die höfisch-ritterliche Kultur stellenweise noch ihre Bezugsgröße, doch ihre Themen, Motive und Erzählstrategien sind bereits ganz andere als die der höfischen Dichtung: In der Regel bilden Konflikte zwischen den Gesellschaftsschichten, den Generationen und vor allem den Geschlechtern ihren Gegenstand, aber auch das Verhältnis zwischen Mensch und Gott oder Einzelnem und sozialer Bezugsgruppe wird hier voller Subtilität, Abgründigkeit und oft schonungsloser Brutalität verhandelt. In diesem Seminar wollen wir uns unter all den Themen, die man in der Auseinandersetzung mit Mären untersuchen kann, besonders auf die Aspekte Betrug und Wahnsinn konzentrieren, also Szenarien, in denen Figuren, oft als Opfer einer Intrige, an ihrer (Selbst-) Wahrnehmung bis zum Identitätsverlust zweifeln. Betrug und Wahnsinn spielen in vielen Mären eine zentrale Rolle sind deshalb von besonderem Interesse für uns, weil sie uns – wenn auch literarisch vermittelt und codiert – Einblicke geben können in historisch fremde Konzepte der Beziehung zwischen dem Einzelnen und seiner sozialen Umwelt.