Die mittelhochdeutsche Literatur wird von Helden dominiert? Das kann nur behaupten, wer die Frauenfiguren nicht kennt, an denen höfische Romane, Heldenepen, Mären und Erzählungen dieser Literatur so reich sind. Diese Figuren strafen das Klischee der schweigsamen, fügsamen und unterwürfigen Frau an der Seite des Helden durch ihre Komplexität und ihren Facettenreichtum vielfach Lügen. Damit ist nicht gesagt, dass sie allesamt stark, modern und emanzipiert seien. Das ist nicht das Kriterium der Auswahl. Vielmehr geht es in dieser Vorlesung darum sichtbar zu machen, welch eindrucksvolle Vielfalt der literarischen Gestaltung von Frauenfiguren zu Gebote stand – einer Gestaltung allerdings, die ausschließlich von männlichen Autoren ausgeübt wurde. Diese aber schufen in ihren Werken Frauenfiguren, die ihr Publikum so sehr faszinierten und beschäftigten, dass sie (wie Kriemhild, die im Nibelungenlied von der Prinzessin zur diabolischen Rächerin wird) in immer neuen Werken aufgegriffen und von verschiedenen Seiten perspektiviert und konnotiert wurde. Frauenfiguren werden so in der Erzählliteratur wie in der Lyrik zum Ort der Verhandlung konkurrierender Rollenerwartungen und von Modellen von Weiblichkeit, für Verknüpfungen zwischen Heiligkeit und Heldentum, Mütterlichkeit und Erotik, Heiligkeit und Erotik. Dabei entstehen Figuren, die die Literaturgeschichte bis heute nachhaltig prägen.