Das Interesse am deutsch-österreichischen Philosophen Günther Anders
(1902-1992) war vielleicht nie so groß wie heute. Sein zweibändiges
Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen (1956/1980) ist ein Longseller
der deutschsprachigen Philosophie und lässt sich sowohl als
technikphilosophisches, medientheoretisches wie auch anthropologisches
Werk lesen. Seine Diagnose des „prometheischen Gefälles“ zwischen der
Fülle an Dingen, die wir herstellen können (inklusive der von ihm
ausführlich reflektierten Atombombe) und dem vergleichsweise geringen
Vermögen, uns die Folgen vorzustellen oder zu fühlen, die das
Hergestellte auf die Welt und die Menschen hat, scheinen im frühen 21.
Jahrhundert wieder auf stärkere Resonanz zu stoßen. Übersetzungsprojekte
seiner Schriften haben wohl auch deshalb derzeit Hochkonjunktur.
Sein Briefwechsel mit seiner ersten Ehefrau, Hannah Arendt, sowie mit
Adorno, Bloch, Horkheimer, Marcuse und Plessner zeigt, dass der
akademische Außenseiter Anders dichte Verbindungen mit der
deutschsprachigen Philosophie unterhielt. Er teilte zudem die Erfahrung
als jüdischer Emigrant mit vielen seiner Zeitgenossen, und auch für ihn
wurde die Shoa zu einem ständigen Bezugspunkt seines Denkens nach 1945.
Anders trug aber auch Wesentliches zu so unterschiedlichen Bereichen wie
der philosophischen Anthropologie, der Musikphilosophie und der
Ästhetik bei, und in bestimmten Hinsichten kann er als origineller
Fortführer der phänomenologischen Tradition gelten.
Wir werden uns im Seminar zunächst mit den medientheoretischen Aufsätzen
von Anders beschäftigen, beginnend mit "Spuk und Radio" (1930) und sein
Bemerkungen zum 3D-Kino sowie dann eingehend mit dem zentralen Essay
"Die Welt als Phantom und Matrize" von 1956.
Von dort gehen wir über zu den Motiven des prometheischen Gefälles und
der promethischen Scham, die Menschen hochtechnisierter Gesellschaften
angeblich gegenüber ihrer "Gerätewelt" empfinden.
Diese veränderten Bezüge zur Umwelt werden bei Anders durch die
Reflexion auf die Atombombe auf die Spitze getrieben, weil durch sie
bzw. durch die Gefahr eines atomar geführten Krieges die Gefahr einer
von Menschen gemachten Apokalypse im Raum steht. Dadurch ändert sich
laut Anders auch unser kollektiver Bezug zur Zeit, die er als "Frist"
vor dem Ende erlebt hat.
Anders' Texte, so viel hat sich in früheren Lektüreseminaren ergeben,
können aufgrund ihres pessimistischen und moralistischen Tons manchmal
nerven, "aber sie sind niemals langweilig", wie es mehrere Studierende
zuletzt ausgedrückt haben. Hinzu kommt, dass Anders aufgrund seiner
Lebensgeschichte die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts exemplarisch
verkörpert hat. Wir werden gegen Ende des Seminars auch gemeinsam
überlegen, inwiefern sich seine Reflexionen über die technisierte Welt
auf die Gegenwart des Klimawandels übertragen lassen.
- Kursleiter*in: PD Dr. Bernd Bösel