Kudrun ist der Name der Hauptfigur eines Epos aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Sie ist eine nordische Königstochter, die – von ihrem Vater eifersüchtig bewacht – von drei Königen umworben wird: Von Siegfried, Herwig und Hartmut. Nachdem Kudrun endlich mit Herwig verlobt wird, entführt Hartmut sie und setzt sie gefangen. Als sie nach vielen Jahren der Knechtschaft und Demütigung durch seine Mutter endlich von ihrer Familie und von Herwig befreit wird, kommt es zu einem blutigen Kampf, der an die vielen vorhergehenden Kämpfe, nicht nur um die Hand Kudruns, sondern auch schon um ihre Mutter und Großmutter, erinnert: Heirat und Familiengründung ist in diesem Epos keine friedliche und Frieden stiftende Handlung, sondern Teil eines blutigen Machtdiskurses, die Braut ist Beute, die dem Kühnsten und Brutalsten zusteht. Umso bemerkenswerter, dass Kudrun den Teufelskreis von Gewalt und Rache zu durchbrechen vermag: Sie beendet das Töten und stiftet dauerhaften Frieden just durch das, was die Kriege ausgelöst hatte: Durch Heiraten. So steht das versöhnliche Ende der ›Kudrun‹ dem des ›Nibelungenliedes‹ diametral entgegen. Die Kudrun ist in einer einzigen Handschrift überliefert, die sie direkt hinter dem Nibelungenlied aufführt, dessen Strophenform sie auch aufweist – die Bezüge zum Nibelungenlied sind also mit Händen zu greifen und die Forschung hat in Kudrun eine ‚Anti-Kriemhild’ gesehen: Wo Kriemhild ihre blutrünstige Rache verfolgt, führt Kudrun Versöhnung herbei. Aus dieser Skizze ergeben sich schon einige der Fragestellungen, die wir aufgreifen werden: Wie wird Verwandtschaft, wie die Geschlechterbeziehung konzipiert? Welche Bedeutungsdimensionen kommen Herrschaft und Gewalt zu? Und was befähigt Kudrun, der Tradition der Grausamkeit ein Ende zu setzen? Außerdem werden uns intertextuelle Bezüge zum Nibelungenlied und zum Dokus Horant, einer mittelalterlichen jüdischen Erzählung, die stoffverwandt ist mit der Kudrun, beschäftigen.